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Donnerstag, 18. Februar 2010

Neue Musik Breakdown

Als Ungar, der in Deutschland lebt, aber nicht nur hier wirkt (Aufführungen von mir gibt es ja auch im Ausland), musste ich mich immer schon zwischen der Armada von Komponisten und Künstlern in diesem Land positionieren. Als ich kurz nach der Wende nach Deutschland kam, habe ich die Stadt Berlin gewählt, um zu studieren. Beinahe noch pubertierend war meine Vorstellung vom Westen, dass man in der Demokratie alles erreichen kann, wenn man hart arbeitet und auch etwas drauf hat. (Dies, ohne hochnäsig zu werden. Ich denke, das habe ich in meiner bisherigen ca. 12 Jahre langen Komponistenlaufbahn mit der einen oder anderen Arbeit von mir bewiesen).


Ich habe Ungarn aus vielerlei Gründen verlassen: um Wissen zu sammeln, auch aus privaten Gründen, einfach um in eine Atmosphäre zu kommen, wo man sich als Komponist oder Künstler verwirklichen kann, ohne irgendeine Grenze ziehen zu müssen: „Dies oder das darf man nicht, da es gefährlich wäre“. DAS kannte ich zu gut aus den Zeiten des Kommunismus. Ich kam nach Deutschland letztlich um der Freiheit willen. Klüngel, Protektion und Schleimerei hat mich immer schon sehr angeekelt. Ich wollte und will weiterhin, dass ein Künstler nach seinem Schaffen und Können beurteilt wird, nicht danach, wer wen kennt, wer mit wem verkehrt und wer wen bedient. Ligeti hat z.B. immer zu seinen Schülern gesagt: „Suche den Widerstand!“. Das ist Kunst und Substanz und Wahrheit. Diese Worte und nicht zuletzt auch die Worte meines Kompositionslehrers Paul-Heinz Dittrich „Anpassen ist der Tod eines Künstlers“ haben mich immer schon getrieben – ob in der Arbeit als Komponist oder im sogenannten politischen Verhalten). Ich bin weiterhin fest davon überzeugt, dass die Haltung eines Künstlers an erster Stelle stehen muss: sich nie verbiegen, zu der eigenen Meinung stehen und sich immer im Spiegel anschauen können.

Nach der Donaueschingen -Schelte 2002 musste ich heftigst erfahren, was es heisst, wenn man konsequent bleibt. Man wird zerrissen, es wird versucht und alles wird dafür getan, dass man kaum weiterkommt, wenn man die eigenen Meinung sagt. Ich habe mir ein dickes Fell anwachsen lassen. Und wie alle sehen, bin ich weiterhin präsent.

Die Demokratie in der hiesigen Kulturpolitik ähnelt mittlerweile sehr den Zuständen in Ungarn während meiner Pubertät: es wird geklüngelt, geschleimt, sich positionierend ein Weg gesucht, wie man Karriere machen kann. Eigentlich wäre es konsequent, sich wie Kurtàg im Kommunismus wie ein Eremit einzuschließen und mit der Familie zusammenlebend für die Kunst zu leben. Nirgendwo mitzumischen, jedoch alles zu betrachten.

Ich frage: was soll denn hier überhaupt passieren, wie soll ein Künstler damit umgehen, um nicht im Frust und dann in die Resignation zu fallen? Einfach aufgeben? Dafür bin ich leider zu obsessiv. Und ich werde immer meinen Widerstand suchen. Das ist liegt als Ungar in meinen Genen.

Ich denke, die beste Variante ist weiterhin – wie ich einmal schon schrieb: „Schmunzelnd den Untergang der Vertreter der sogenannten Neuen Musik“ betrachten. Aber dafür ist diese Kultur doch viel zu wichtig! Soll man wirklich alles dem neoliberalen Schleimertum und den angepassten Unkünstlern und opportunistischen Karrieristen überlassen? Kampf ist angesagt!

Daher, lieber Moritz, hier meine Antwort: Nein, ich möchte nicht mehr als Gastblogger installiert werden. Diese Funktion ist mir abhold. Ich habe keine Lust den Clown zu spielen, auf dessen Rücken dann hochgeklettert wird. Ich stehe zu den Menschen, die tolle, grenzüberschreitende und wirklich offene Foren bieten für die Kunst – diese verbinde ich mit Gegenden wie Weimar, die Randbezirke Berlins, Niedersachsen, dem Ruhrgebiet, Leipzig oder dem Osten der Republik. Hier passiert und lebt noch etwas. Und wenn diese Foren sich trotzdem manchmal im Kreise drehend erscheinen, ist das nur, weil sie nicht die materiellen Möglichkeit haben bzw. die übriggebliebenen Möglichkeiten sogar noch weggekürzt werden(!). Und auch, weil diese Foren nicht mit riesigen Trommelschlägen ihr Tun begleiten, weil kein Kartell dahintersteckt. Auch keine Zeitung, wie unter anderem die nmz. (Bei dieser Zeitschrift – die wir auch bekommen, weil meine Frau DTKV-Mitglied ist – liest man seit Jahren beinahe nur vom über Veranstaltungen der westlichen Zentren: Selbstbeweihräucherung und Selbstliebe der Ewiggleichen).

Für mich als Aussenstehenden erscheint diese Entwicklung der letzten Jahre – vor allem, seit dem das sogenannte „Netzwerk“ ins Leben gerufen worden ist – als eine stillschweigende Okkupation der östlichen Republik in die große BRD: das noch Vorhandene wird noch weiter zerstört und kaputt germacht und die Künstler, die hier wirken, haben beinahe die Hoffnung verloren. Weil es kaum noch Sinn macht, gegen die Großen aus dem Westen des Landes anzukämpfen. Ich weiss, vielleicht werden jetzt viele Gegenbeispiele genannt. Aber wenn man bei denen in die Tiefe schaut, stecken dahinter meistens irgendwelche „verfilzten“ Wendehälse oder aus dem Westen zugezogene Neue-Musik-Demokraten“.

Nein. Ich will hier keine Ost-West-Diskussion und/oder Polarisation. Das sind leider Tatsachen. Die Künstler im Osten des Landes haben mittlerweile längst gelernt damit umzugehen: sie suchen ihre Wege in künstlerischen Freiheiten, die im Westen unbekannt sind, und schlagen dem Bild vom oft bequem propagierten „Jammerosten“ ein Schnippchen.

Aber Herr Jansons erster Beitrag zeigt, dass es nicht nur im Osten so zugeht. Auch bestimmte Ecken im Westen haben mittlerweile mit dem Überleben zu kämpfen, weil sie nicht das Sprachrohr haben, um sich zeigen zu können – es gibt keine Plattform, wo Künstler sich präsentieren können. Und von den Zeitschriften, deren Aufgabe es eigentlich wäre darüber zu berichten, werden sie durchweg ignoriert.

Der Ablauf ist beinahe gleich wie in der Politik: erst wurde der Osten okkupiert, dann rücksichtslos zerstört und unterwandert, dann folgt die Abwanderung,. Tatsächlich haben mittlerweile im Westen einige Städte und Gegenden das gleiche Problem: es fehlt das Geld bzw. das Geld, das da wäre, wird einseitig verteilt .

So kann man Kultur kaputtmachen. Statt Vielfalt, die eine der Werte der Demokratie ist, gibt es nur noch die Gegensatzpaare Groß, Institutionell und Kartellähnlich und klein, aber frei und totgeschwiegen (nachzulesen auch bei Colin Crouch, Postdemokratie, Edition Suhrkamp).

Bestimmte Leute werden mich wahrscheinlich in eine rote Ecke drängen wollen. Um dem zuvor zu kommen: ich bin im Kommunismus aufgewachsen und wurde wegen meines „blaublütigen“ Namens dort von Klein auf diskriminiert. Ich weiss deshalb sehr gut, was „rote“ Diktatur bedeutet, wie das ist, seine Ausbildung nicht frei wählen zu können und im beruflichen Leben reglementiert zu werden. Aber das, was hier in den einigen Jahren hier unter der Deckmantel „Demokratie“ abläuft, ist beinahe das Gleiche wie damals in den 80er Jahren in Ungarn. Nun, heute heisst das Neoliberal. Ich sage eher: „Marktdiktatur“ und „Geschleime“ mit Anzug, himmelblauem Hemd und Joop-Krawatte.

Ich hoffe nur, dass Künstler einfach endlich den Mumm haben, sich nicht verbieten zu lassen den Mund aufzumachen. Und sich nicht weiter provozieren zu lassen durch diesen neoliberalen Geist, der mehr zerstört als aufbaut, weil es nur noch um Gewinn und Geldmacherei geht und nicht um Werte, die die Kunst vertritt: Wahrheit, Freiheit – im der künstlerischen wie auch in der politischen Haltung.

Noch etwas zur politischen Haltung:

Und wenn man hört, dass man von Jemand „entdeckt“ werden soll, um irgendwo hineinzukommen, gespielt zu werden, geschweige denn einen Auftrag zu bekommen Ich frage mich, wie soll das denn passieren? Die Realität sieht doch so aus: einer empfiehlt den anderen und dann wird der „entdeckt“! Hurra! Wie toll und demokratisch! Diktaturen funktionieren genauso und im damaligen Kommunismus funktionierte alles genauso: ja, vielleicht mit dem Unterschied, dass damals ein kleines Parteibuch dazu nötig war, um etwas zu erreichen. Heutzutage braucht man kein Büchlein – eigentlich wäre dies im Kulturbetrieb jedoch viel „demokratischer“: eigentlich müsste auch hier ein kleines Parteibuch gemacht werden, das dann Komponisten durch angepasstes und wohlgelittenes Verhalten erwerben könnten, um dann bei den Großen anzukommen Dann wüsste man genau: Aha, der gehört dazu … So, wie das jetzt läuft, ist es viel schlimmer, da alles in Vernebelung gehalten wird oder auf Nachfragen nur mit Sätzen wie „ Du bist nur neidisch“ oder „ Der will doch nur selbst an Aufträge kommen“ geantwortet wird.

Summa Summarum: wahrscheinlich braucht der Mensch Diktatoren – gerade in Deutschland. Da sind viele schon daran gewöhnt. Erst Hitler, dann Honni, jetzt das Geld oder der Neoliberalismus – was eigentlich nichts anderes ist als das Diktieren von Werten, die eigentlich keine Werte sind, weil sie in ihrer unnützen Oberflächlichkeit die wahre Werte der Kunst auffressen.

Dienstag, 22. Dezember 2009

Neue Musik in der Kirche und beim Gottesdienst

Welche Kirche ist so offen, Neue Musik beim Gottesdienst erklingen lassen? Gemeint sind hier nicht Kirchen, in denen sowieso Festivals und Veranstaltungen mit Neuer Musik stattfinden. In welcher Kirche wird den Komponisten gewährt, wirklich Neues zu präsentieren?

Kirchen, die Neue Musik unterstützen – in dem sie z.B. Raum zur Verfügung stellen oder im besten Fall während eines Festivals, das vor Ort stattfindet, einen Gottesdienst für das Fachpublikum, das dort sich gerade aufhält, veranstalten - beschränken sich nur auf die äußerliche Verpackung. Ich kenne kaum Kirchen, die gezielt durch professionelle Veranstaltungen im alltäglichen Kirchenleben Neue Musik miteinbeziehen (z.B. im Gottesdienst). Leider werden Gottesdienste beinahe nur von Menschen höheren Alters besucht, jüngere Gläubige spielen zwar immer wieder bei den Gottesdiensten auf der Gitarre ins Deutsche übersetzte amerikanische Kirchenlieder mit oberflächlichem und peinlichem Inhalt, populärer Anbiederei und beinahe immer mit dilettantischem Musikgefühl und noch schlimmerer Interpretation. (Nicht vergessen, ich spreche hier NUR vom allgemeinen Kirchenalltag!). Von wem sollte denn überhaupt eine professionelle Vermittlung Neuer Musik in den Kirchen kommen?

...aber es gibt bestimmt auch die sogenannte „Neue Musik“ in der Kirche. Diese bedient sich bei den Klischees der Kirche selbst. Nimmt kirchliche Themen und verpackt diese in das Gewand der Neuen Musik. Und keiner will diese eigentlich hören. Wer traut sich überhaupt heute noch eine Messe zu schreiben? (Abgesehen davon, dass der Papst ja alles, was in Kirchen kulturell stattfinden soll, für Gottes Lohn entschädigen will.) Wer soll dafür den Auftrag geben? Gott? Welcher Komponist ist überhaupt noch fähig dazu, so etwas zu wagen? Als Protestant würde ich mehr Offenheit und Experiment im Namen Gottes erwarten, um damit wieder mehr Glauben verbreiten zu können – davon haben viele mittlerweile sehr wenig, da sich das nicht rentiert. Und da nutzen auch keine Gotteslieder mit Gitarre in der Hand und mit falscher Stimme – die quälen und vertreiben eher.....

Peter Köszeghy 30.04.2009 Berlin

Schönheit - Energie und Bewegung

„Das reine Subjekt des Erkennens des Schönen tritt ein, indem man sich vergißt, um ganz in den Dingen aufzugehen; so daß nur sie im Bewußtsein übrig bleibt“
(Arthur Schopenhauer, Parerga und Paralipomena)

Bewegung

Aufgehen in den Dingen (sowohl geistig als auch emotional): sich Auflösen in der von einem Kunstwerk ausgelösten Energie. Aufgehen: Dies bringt Bewegung, die dann wiederum Emotionen und geistige Blitze im Hirn erzwingt. Wenn diese von einem Musikstück durch Energie erzwungene Bewegung auftritt, ist die Definition meines Schönheitsideals erfüllt. Energie, die geistig und emotional Bewegung in der Psyche erzeugt, ist für mich schön. Energie, die leuchtet, aufrüttelt, die das Innere erzittern läßt. Energie, durch die in mir der Auslösungsprozess eines noch nie dagewesenen Gedankens beziehungsweise einer neuen Konstellation des in dieser Form noch nicht Dagewesenen hervorgerufen wird. Der Kern dieses neuen Gedankens ist der Nährboden für mein Schönheitsideal: Weil dieser mich auf neue Ideen bringt. Bewegung als Ideal für das durch geistige Prozesse ausgelöste, jedoch emotional Empfundene ist mir die wichtigste Erscheinungsform von Schönheit. Keine leeren, puren, weißfarbenen Wände. Alles vollspritzen mit Farbe, um dann von den aus der Nähe betrachteten Nuancen eine neue Gesamtheit des Hörbaren zu entdecken. In diesem Sinne ist Stagnation das Gegenteil des Schönen. Jedoch der Kontrast in der Zeit zwischen Stagnation und Bewegung ist wiederum ein Phänomen, das erneut Bewegung in sich birgt, also für mich schön ist. Darum sind Kontraste wie geschlossene Bewegungszellen: So kann jede miteinander kontrastierende Idee als Bewegung definiert werden. Im Detail steckt die Gesamtheit.

Radikalität als Werkzeug

Radikalität heißt für mich, sich nicht zu scheuen, musikalische Grenzen zu überschreiten: es sich selber nicht bequem zu machen – auch den Zuhörern nicht. Etwas als schön zu empfinden fordert also maximale Konzentration, für den Komponisten wie für den Zuhörer. (Die von einem Kunstwerk ausgelösten emotionalen Energien müssen daher vom Zuhörer genauso tiefgehend und radikal geistig verarbeitet werden). Nie zufrieden sein mit einer Idee, die einfach „pur“ da ist. Hineingehen. Sich durchkämpfen zu deren Kern. Wie beim Aufbrechen einer metallenen Kugel, wenn es sein muß mit aller Kraft mit einem Hammer draufschlagen. Ich will sehen, was da drin steckt, um dann das Entdeckte durch mein Handwerk zu übermitteln. Radikalität ist eines der wichtigsten Werkzeuge für meine Kompositionen. Sie ist immer da, um Bewegung zu erzeugen. Durch Radikalität sowohl gegenüber dem Ausgangsmaterial als auch gegenüber dessen Er- und Ausarbeitung erreiche ich die höchstmögliche vorhandene Energie durch und in der Musik. Die radikale Betrachtung des Kerns einer Grundidee ist die wichtigste Voraussetzung, diese Idee gut ins Hörbare zu übermitteln: durch das exzessive Ausweiden und Zerlegen dieses Kerns wird letztendlich die Erlebnisrate – worum es für mich als Zielsetzung meiner Kompositionen geht – eines Musikwerkes sehr hoch. Ich sage oft, ich schreibe keine Musik mehr, sondern Hörerlebnisse. Durch Erlebnisse löst man Emotionen aus und Erlebnisse bewegen den menschlichen Geist. Damit schließt sich der Kreis wieder mit der Bewegung, die mein künstlerisches Schönheitsideal bedeutet. Durch diese Handhabung des kreativen Prozesses und das radikale Ausarbeiten musikalischer Ausgangspunkte wird eine Art Ritualität in die Musik hineingeboren. Ritual ist alles, was wieder in der Psyche Bewegung erzeugt und durch das Ritual erreicht man das Aufgehen im Kunstwerk (siehe Zitat vom Anfang). Schönheit als solche ist in meinem Verständnis als Qualitätsmerkmal in der Musik sicherlich keineswegs verschwunden, sondern die Definition ist eine andere geworden: Ein nicht auf die Tradition gesetztes, sondern auf einem psychofuturistischen Erlebnis basierendes Ideal, das mich jedes Mal mit Freude und innerer Aufregung erfüllt, die ich durch meine Klangkunst vermitteln möchte. Da Schönheit sich als generelles und uniformisiertes Phänomen in der Musik nicht beschreiben läßt, ist hier das Definition des Empfindens des Schönen wichtiger als die objektive Festlegung: Dies oder das ist in der Musik schön. Mir persönlich erscheint die traditionelle, von vielen vertretene allgemeine - nicht nur die Musik betreffende – Definition des Schönen (Wohlklang, mit Glücksgefühlen verbunden, Makellosigkeit, Perfektion) als absurder Gedanke, da etwas als schön zu empfinden so verschieden sein kann, wie es die verschiedene und komplexe Vielfalt der Individuen auf der Erde gibt. Die Aufgabe des Künstlers ist es, Schönheit immer wieder neu zu definieren, da Kunst die Aufgabe hat, Schönheitsideale ins Leben zu rufen. Generell ist jedoch jedes Schönheitsideal kurzlebig, da die Schönheit als Subjekt sich genauso in ständiger Bewegung befindet wie das In-sich-Drehen einer Galaxie.

August 2005, in Berlin

Pèter Köszeghy

Samstag, 12. Dezember 2009

Grenzüberschreitungen - Wege, Neues zu finden?

Ein Aufsatz über das “Neue”.

Neu - dieses Wort hat bereits im Augenblick des Lesens oder Aussprechens seinen Sinn verloren. Die Grenze seiner Bedeutung ist überschritten worden, das Hirn fasst sie noch auf, jedoch in diesem Augenblick ist es nicht mehr neu, das “Neue”. Man kann die Zeit nicht beherrschen - jeglicher Versuch, dies zu tun, bleibt Utopie. Genauso verläuft dieser Prozess bei der Wahrnehmung in der Musik und anderen auditiven Phänomenen. Gerade deswegen ist die Bezeichnung “Neue Musik” einer der größten Irrtümer unsere Musikgeschichte. Musik, die gerade geschrieben wird, ist immer neu. Im Augenblick des Spielens ist dieselbe Musik aktuell - dann wird sie alt. In unserer Konsum orientierten Gesellschaft ist die ursprüngliche Bedeutung des Wortes, und des Gefühls “neu” mittlerweile ohnehin verloren gegangen und ins Mittelmaß versunken.

Musikalische Grenzen zu überschreiten ist einfach. Die meisten Komponisten tun dies aber gar nicht, und die, die es hören müssten, ignorieren es. Letzteres hat eine rein gesellschaftliche Ursache: Es wird leider immer erwartet, in welche Richtung man die Grenzen zu überschreiten hat (wie in der Werbung, wo Produkte für Verbraucher als “neu” angepriesen werden, die bereits längst Teil des Erwartungshorizontes sind). Unter dieser Voraussetzung werden Grenzüberschreitungen zu aufgesetzten Masken und bleiben somit an der Oberfläche. Der Wille, tatsächlich etwas Neues zu hören, ist nicht da - ein Tummelplatz für mediokre Karrieristen und Zeitgeisttonsetzer. Sicher, ihr Standpunkt ist durchaus nachvollziehbar: Sie können meist ohne geistige und handwerkliche Arbeit und Können ihr Ziel erreichen, zu Geld und aufflackerndem (und Gott sei Dank genauso schnell wieder verlöschendem Ruhm) zu kommen. Ist das aber wirklich alles?

Schubladendenken und ein Katalogisieren musikalischer Vor- und Endprozesse ist heutzutage
verbreiteter denn je. Es wird alles mit allem verglichen, vermischt, überdeutet, unterdeutet, umgedeutet, gefärbt. Ich selbst spreche mich leider von diesem Denken nicht frei. Mein Eindruck der heutigen jungen Komponistengeneration ist Desillusionierung geprägt. Wesen, die das leiseste Furzen als Weltschmerz ideologisieren, die rein mathematische Prozesse eins zu eins ins Auditive umsetzen und dann vom Hörer erwarten: dadurch spricht “Gott” gerade zu uns. Menschen, die die Tonalität neu “entdecken”, alles Progressive wegwerfen (und dadurch nur ihre eigene armselige Kreativität vertuschen versuchen). Computer-Freaks, die die neuste Computerprogramme faszinierender finden als das, was damit kompositorisch machen könnte. Komponisten, die oberflächlich ein paar Beats einsetzen und denken, sie hätten Mauern eingerissen zwischen populärer und “ernster” Musik. Das alles kennen wir spätestens seit dem Serialismus oder Minimalismus oder Sonorismus. Nichts ist davon “Neu”. Ja, sicher. Es ist alles erlaubt, und vieles kann in viele Schubladen hineinpassen (sagen viele).

Nein. Vieles ist überhaupt nicht “erlaubt” - sage ich. DAS interessiert mich. Da will ich hin. Zu diesem “WIEDERSTAND” und dem “UNBEKANNTEN” (Reaktionen eingeschlossen). Es ist aber nicht egal, wie diese Schubladen benutzt werden. Handwerk gehört als Erstes dazu. Und es gehört dazu, durch die musikalische Hölle wandern zu müssen. Es ist noch nicht grenzüberschreitend, wenn einer diverse Medien dazu benutzt, die innere Leer zu überdecken. Worauf es ankommt, ist die Tiefe der Vorausempfindung einer Klang- oder Utopiewelt, die dann mit ganzer Kraft ausgelebt und durchgesetzt werden kann und muss. Ob das Endprodukt dann Videokunst, Aktion oder reine Klangkomposition ist, ist egal. Oft habe ich das Gefühl, diese Medien werden nur als reine Effekthascherei - im Sinne von “sich interessant zu machen” - eingesetzt. Wenn der leiseste Furz als der grösste und tiefste Weltschmerz empfinden werden soll, dann muss derjenige, der dies zu übermitteln vermag, vorher in die Hölle hinab gestiegen sein: es ist nicht nur das Angenehme, auch das Widerliche gehört zu einem Empfindung. Wer dies vergisst, bleibt ungewollt auf der Oberfläche der Dingen hängen.

Grenzen überschreiten! Wofür ist das überhaupt nötig oder gut? Ich bin fest davon überzeugt (und diese Überzeugung basiert nicht nur auf musikhistorischen Kenntnissen, sondern auch auf persönlicher Erfahrung): Ohne ein Verbreiten und Überschreiten musikalischer Grenzen drehen wir uns nur im Kreis. Das sehe ich als momentan beste Beschreibung des musikalischen Geschehens unserer Zeit. In die Weite blickend, jedoch in die Tiefe tretend. Natürlich muss jeder selbst die Grenzen setzen, die überschreiten werden sollen. Tabus. Extreme Situationen. In die Tiefe gehen und dabei alles im Auge behalten; aus allem kann Gutes, Neues gemacht werden. Nur die tatsächliche Wille, den man dazu braucht, fehlt den meisten. Bequem sind sie. Tabus sind genügend da. Wenn man diese Tabus jedoch bricht, um bestimmte Grenzen zu überschreiten, wird dies von einer bequemen Armada von Veranstaltern und Kritikern als Frechheit oder “Unkunst” bezeichnet. Um damit die eigene Unintelligenz zu überdecken. (Die Bezeichnung “bequeme Armada” betrifft selbstverständlich nur die, die sich dadurch angesprochen fühlen!)

Haltung. Das ist eine der Schlüsselwörter dafür, die Grenzen, die man sich selbst setzt, zu
überschreiten. Die Haltung eines Komponisten beeinflusst in grösster Weise den kreativen Prozess beim Schreiben - sie ist sozusagen der Grund dafür (oder müsste es sein!), dass überhaupt musikalische Visionen und Utopien entwickelt werden können. Wenn die Haltung jedoch nicht mit den eigenen menschlichen Merkmalen und deren Proportionen übereinstimmt, dann ist das daraus Resultierende Werk die Lüge selbst. Gerade im Werken junger Komponisten musste ich dieses Dilemma meist erleben. Besonders 2004 in Darmstadt: Es reicht wenn wir gut funktionierende Mittel einsetzen, nicht einmal dann, wenn dies mit wirklich gutem Handwerk verbunden ist. Reines Handwerk ist Mittelmaß. Nur gut Funktionierendes ebenso. Dann überschneiden sich beide Wege und enden dort, wo sie anfingen: an der Oberfläche.
Man braucht - wenn man eine starke Persönlichkeit, Ehrgeiz und wahre Utopien hat - mindestens zwei Jahre dafür, das im Studium Erlernte, Angewöhnte “auszuziehen” . Danach noch zehn Jahre, bis man es geschafft hat, aus der Schublade der “Schüler von…..” raus zu kommen. Wenn das handwerklich gut gemacht ist, jedoch alle Kräfte und auch die Überzeugung selbst fehlen, bleibt nur ein Hauch der Genialität des vormaligen Lehrers. Junge Komponistenkollegen bedienen gerade diese Art von Arbeit: Scheinbar stimmt alles - nun, tut es das wirklich? Das sind Normen unserer Zeit: Anpassen, “political correctness”, nicht zu weit gehen, alles gut funktionierend und flach, langweilig hinschreiben. Das ist nur leider gerade das Gegenteil von dem, was interessant ist und Boden für Neues bietet! Es dauert eine Weile, bis man von der vom Lehrer geprägten “Halbidentität” loskommt. Das ist schwer, mühsam und führt ins Unbekannte. Alles, was man in der Hochschule lernt, müsste man idealerweise
wegwerfen, dann wieder herausholen aus dem Papierkorb - neu bewerten, überdenken, und wieder wegwerfen. Aber passiert das in vielen Fällen? Weiterdenken. In die Leere, in das Unbekannte, in das Vernebelte. Nichts wird auf einem Silbertablett serviert. Anpassung im Sinne einer musikalisch Erfolg heischenden und dafür alles Eigene auf den Müll werfenden Haltung ist nie langlebig.

Ich würde das Neue, das Grenzen überschreitende in zwei Kategorien aufspalten: in den handwerklichen kompositorischen Prozess und in das hörbare Ergebnis. Ist die Idee neu in Bezug auf das Handwerkliche? Dies ist nicht interessant für das Publikum: Hörbar gemacht werden konstruktive Ideen selten (Und konstruktives Hören an sich gibt es eigentlich nicht - vielleicht erst in 300 Jahren, wenn die Menschheit dann überhaupt noch in der heutigen Form existiert. Wenn wir keine Ohren mehr haben, dafür mit den Augen werden hören können). Mathematische Prozesse und algorithmische Ideen nimmt niemand hörend wahr. Diese Arbeitsweise, Neues zu finden, beschränkt sich auf den rein spekulativen und intellektualisierten Prozess, eigentlich ja KEIN Ziel der Musik . Heute komponierte rein konstruktivistische Werke sind Ausläufer einer längst vergessenen musikalischen Richtung: des Serialismus. Ein Vergleich: Bei einem Architekten z.B. interessiert es keinen Menschen, wie er die Konstruktion eines Hauses mit Hilfe mathematischer Formeln ausgerechnet und erschafft. Was aber interessiert, ist, wie dieses Haus wirkt und ob es überhaupt stehen bleiben wird. Die Voraussetzungen
dafür gehören zum Handwerk - sind sozusagen “Fachgeheimnis”, die das Hörergebnis nur im
Hintergrund minimal beeinflussen. Unter uns Komponisten gibt es ja auch viele “Mathematiker”, die dieses Handwerk überbewerten - sogar das ganze “Neue” darauf aufbauen wollen und mathematische Vorprozesse mit der Identität eines Musikwerkes fast auf die gleiche Stufe stelle - dies ist nur die Unsicherheit, was durch wissenschaftliches verdeckt wird. Die Unsicherheit gegenüber der eigenen seelischen und Emotionellen Welt. Um diese nicht anrühren zu müssen. Da sie Angst haben von der eigenen Gefühlswelten, werden Masken und “Kleider” für das Geschöpf gesucht, um es zu verdecken. Neues in Bezug auf das hörbare Ergebnis: hier ist natürlich auch Vorsicht geboten. Wenn ein Musikwerk nur aus Effekten besteht, die gut, angenehm und interessant klingen, wird zwar unter Umständen viel eher vom Publikum akzeptiert, doch ohne geistige Vorarbeit einer musikalischen Idee bleiben solche Musikstücke nach dem ersten Erklingen langweilig, zu pur, einfach. (Das passierte mit bei einigen Stücken von Ligeti: Nach dem zweiten Hören einiger Stücke hatte ich keine Lust mehr auf ein weiteres Mal. Die betreffende Werke wurden langweilig: Viele auf Hörpsychologie basierende musikalische Prozesse bedienten schon beim Geschehen die Erwartung. Es war nicht mehr interessant,
alles war zu berechnend.) Die Schlussfolgerung hieraus: Einseitigkeiten in beiden Kategorien befriedigen die Hörerwartung nicht. Es muss immer etwas Überraschendes passieren, man muss bei jedem Hören eines Werkes Neues entdecken können. Dies erreicht man nur mit einer Arbeitsweise, die beiden Kategorien verwirft, und diese dann mit ungewohnten Gedankengängen und Vorlieben umwertet. Des Weiteren kommt es auf die Schaffung von Energie und einer hohen Erlebnisrate für den Zuhörer an. Ein Stück soll für den Hörer wirken wie ein Blick auf eine Galaxie, ohne Grenzen, leuchtend, sich in sich bewegend, sich immer neu
belebend… Also, was nun? Alles in einem Topf werfen und durchkneten. Was rauskommt? Lassen wir uns überraschen. Man muss nicht alles vorher wissen - deswegen: keine bewusste Algorithmik - die braucht man wirklich, wenn man unsicher in seinem Ich ist) , kein Vorkonstruieren, nur das Allernötigste. Ich will, das das Material und die Idee mich beim Komponieren selbst auch schon überrascht! Keine Wirkungsjägerei und Effekthascherei - das ist einfach, primitiv und berechenbar. Energie! Kraft! Schreie! Un d nicht zuletzt Bewegen, Springen, Reintreten, Schleudern und Wirbeln, Gewohntes und gut Funktionierendes (weil es nur funktioniert und nicht weiter) ausrotten. Dies alles muss getan werden, um etwas Neues und Grenzüberschreitendes zu Schaffen. Bequemlichkeit tötet den Geist. In diesem Sinne keine “Musik” mehr komponieren. Davon gibt es ja genügend. Hörereignisse müssen her, die dazu geboren werden, die Seele und den Geist des Zuhörer zu bewegen. Das Schaffen eines Erlebnisses soll daher in jedem Punkt als Ziel gesetzt werden, Klänge “in die Köpfe” gehauen
werden, die wochenlang noch dort herumschwimmen, um Reaktionen auszulösen. Keine langweiligen, nichts sagenden Musikstücke, die dann im Anschluss an die Aufführung im Nachhinein verintellektualisiert werden, zu denen sogar vorher Romane im Programmtext geschrieben werden, was diese nichts sagende und langweilige Musik eigentlich ja sagen will. (Bitte schön, wenn ein Komponist es nicht schafft, diese Aussage durch seine Musik zu machen, sollte er lieber was anderes als Beruf suchen. Es geht ja doch um das Klangergebnis, nicht darum, wie man beschreiben kann, was man komponieren möchte bzw. komponiert hat. Wenn Texte solcher Art im Programmheft gefunden werden, brauchen wir eigentlich nichts Hörbares zu schreiben. Dies ist eines der grössten Probleme unserer Neuen Musik. Wenn ich zum Konzert gehe, möchte ich das HÖREN können, was der Komponist sagen möchte. Ein aussagefähiger Titel für ein Werk sollte daher als Verbale Bestandteil eines Musikstückes ausreichend sein).
Wahre Kunst, die etwas zu sagen hat, ist wie eine Naturkraft. Sie überschwemmt das, was sie sowieso nicht zurückhalten kann: ihre Kraft ist grenzenlos, immer neu, überraschend, bewegend. Das ist das, was heute den meisten Komponisten der jüngeren und jüngsten Generation fehlt. Um nochmals den Vergleich zur Architektur zu bemühen: Wenn wir “Häuser” bauen möchten mit Noten, möchte ich meine Häuser zwar aus Steinen und “gewöhnlichen” Baumaterial bauen, doch meine Häuser müssen mal auch auf dem spitzen Dach stehen können, dabei rotieren und das alles vielleicht auch noch in der Luft schwebend tun. Ohne jedoch, dass die Bewohner dabei erbrechen müssen. Oder doch? Das wäre wiederum grenzüberschreitend und interessant: was könnte ich aus dem Erbrochenen wieder Neues bauen? Vielleicht einer Puppe kneten, die singen und Klavier spielen kann?

Neues und Grenzüberschreitendes muss man nicht krampfhaft suchen. Es liegt vor unserer Nase. Es kommt auf die Auffassung der Idee vom Neuen an, auf die Aufarbeitung selbiger. Größtenteils hängt der Erfolg, eine neue Idee auditiv zu übermitteln, davon ab, wie tief in die eigene Psyche in die Idee eingetaucht, diese Idee angekratzt, angefasst und miterlebt wurde. Ob der Kern verstanden und von mehreren Seiten beleuchtet wurde. Und entsprechend ´natürlich mit Geschick übermittelt und von den besten Interpreten vorgetragen wurde. Wenn dies alles stimmt, hat man echte “neue” Kunstwerke erschaffen, die bewegen, viel zu sagen haben und weitere, in die Weite zeigende Wege vor unseren Augen geöffnet haben. Wege, die zwar jetzt schon da sind, jedoch die Alltäglichkeit von der bequemen Schar der menschlichen Wesen nicht bemerkt, angeschaut und angehört werden können.

Pèter Köszeghy, 2004/2005 in Berlin