Samstag, 12. Dezember 2009

Grenzüberschreitungen - Wege, Neues zu finden?

Ein Aufsatz über das “Neue”.

Neu - dieses Wort hat bereits im Augenblick des Lesens oder Aussprechens seinen Sinn verloren. Die Grenze seiner Bedeutung ist überschritten worden, das Hirn fasst sie noch auf, jedoch in diesem Augenblick ist es nicht mehr neu, das “Neue”. Man kann die Zeit nicht beherrschen - jeglicher Versuch, dies zu tun, bleibt Utopie. Genauso verläuft dieser Prozess bei der Wahrnehmung in der Musik und anderen auditiven Phänomenen. Gerade deswegen ist die Bezeichnung “Neue Musik” einer der größten Irrtümer unsere Musikgeschichte. Musik, die gerade geschrieben wird, ist immer neu. Im Augenblick des Spielens ist dieselbe Musik aktuell - dann wird sie alt. In unserer Konsum orientierten Gesellschaft ist die ursprüngliche Bedeutung des Wortes, und des Gefühls “neu” mittlerweile ohnehin verloren gegangen und ins Mittelmaß versunken.

Musikalische Grenzen zu überschreiten ist einfach. Die meisten Komponisten tun dies aber gar nicht, und die, die es hören müssten, ignorieren es. Letzteres hat eine rein gesellschaftliche Ursache: Es wird leider immer erwartet, in welche Richtung man die Grenzen zu überschreiten hat (wie in der Werbung, wo Produkte für Verbraucher als “neu” angepriesen werden, die bereits längst Teil des Erwartungshorizontes sind). Unter dieser Voraussetzung werden Grenzüberschreitungen zu aufgesetzten Masken und bleiben somit an der Oberfläche. Der Wille, tatsächlich etwas Neues zu hören, ist nicht da - ein Tummelplatz für mediokre Karrieristen und Zeitgeisttonsetzer. Sicher, ihr Standpunkt ist durchaus nachvollziehbar: Sie können meist ohne geistige und handwerkliche Arbeit und Können ihr Ziel erreichen, zu Geld und aufflackerndem (und Gott sei Dank genauso schnell wieder verlöschendem Ruhm) zu kommen. Ist das aber wirklich alles?

Schubladendenken und ein Katalogisieren musikalischer Vor- und Endprozesse ist heutzutage
verbreiteter denn je. Es wird alles mit allem verglichen, vermischt, überdeutet, unterdeutet, umgedeutet, gefärbt. Ich selbst spreche mich leider von diesem Denken nicht frei. Mein Eindruck der heutigen jungen Komponistengeneration ist Desillusionierung geprägt. Wesen, die das leiseste Furzen als Weltschmerz ideologisieren, die rein mathematische Prozesse eins zu eins ins Auditive umsetzen und dann vom Hörer erwarten: dadurch spricht “Gott” gerade zu uns. Menschen, die die Tonalität neu “entdecken”, alles Progressive wegwerfen (und dadurch nur ihre eigene armselige Kreativität vertuschen versuchen). Computer-Freaks, die die neuste Computerprogramme faszinierender finden als das, was damit kompositorisch machen könnte. Komponisten, die oberflächlich ein paar Beats einsetzen und denken, sie hätten Mauern eingerissen zwischen populärer und “ernster” Musik. Das alles kennen wir spätestens seit dem Serialismus oder Minimalismus oder Sonorismus. Nichts ist davon “Neu”. Ja, sicher. Es ist alles erlaubt, und vieles kann in viele Schubladen hineinpassen (sagen viele).

Nein. Vieles ist überhaupt nicht “erlaubt” - sage ich. DAS interessiert mich. Da will ich hin. Zu diesem “WIEDERSTAND” und dem “UNBEKANNTEN” (Reaktionen eingeschlossen). Es ist aber nicht egal, wie diese Schubladen benutzt werden. Handwerk gehört als Erstes dazu. Und es gehört dazu, durch die musikalische Hölle wandern zu müssen. Es ist noch nicht grenzüberschreitend, wenn einer diverse Medien dazu benutzt, die innere Leer zu überdecken. Worauf es ankommt, ist die Tiefe der Vorausempfindung einer Klang- oder Utopiewelt, die dann mit ganzer Kraft ausgelebt und durchgesetzt werden kann und muss. Ob das Endprodukt dann Videokunst, Aktion oder reine Klangkomposition ist, ist egal. Oft habe ich das Gefühl, diese Medien werden nur als reine Effekthascherei - im Sinne von “sich interessant zu machen” - eingesetzt. Wenn der leiseste Furz als der grösste und tiefste Weltschmerz empfinden werden soll, dann muss derjenige, der dies zu übermitteln vermag, vorher in die Hölle hinab gestiegen sein: es ist nicht nur das Angenehme, auch das Widerliche gehört zu einem Empfindung. Wer dies vergisst, bleibt ungewollt auf der Oberfläche der Dingen hängen.

Grenzen überschreiten! Wofür ist das überhaupt nötig oder gut? Ich bin fest davon überzeugt (und diese Überzeugung basiert nicht nur auf musikhistorischen Kenntnissen, sondern auch auf persönlicher Erfahrung): Ohne ein Verbreiten und Überschreiten musikalischer Grenzen drehen wir uns nur im Kreis. Das sehe ich als momentan beste Beschreibung des musikalischen Geschehens unserer Zeit. In die Weite blickend, jedoch in die Tiefe tretend. Natürlich muss jeder selbst die Grenzen setzen, die überschreiten werden sollen. Tabus. Extreme Situationen. In die Tiefe gehen und dabei alles im Auge behalten; aus allem kann Gutes, Neues gemacht werden. Nur die tatsächliche Wille, den man dazu braucht, fehlt den meisten. Bequem sind sie. Tabus sind genügend da. Wenn man diese Tabus jedoch bricht, um bestimmte Grenzen zu überschreiten, wird dies von einer bequemen Armada von Veranstaltern und Kritikern als Frechheit oder “Unkunst” bezeichnet. Um damit die eigene Unintelligenz zu überdecken. (Die Bezeichnung “bequeme Armada” betrifft selbstverständlich nur die, die sich dadurch angesprochen fühlen!)

Haltung. Das ist eine der Schlüsselwörter dafür, die Grenzen, die man sich selbst setzt, zu
überschreiten. Die Haltung eines Komponisten beeinflusst in grösster Weise den kreativen Prozess beim Schreiben - sie ist sozusagen der Grund dafür (oder müsste es sein!), dass überhaupt musikalische Visionen und Utopien entwickelt werden können. Wenn die Haltung jedoch nicht mit den eigenen menschlichen Merkmalen und deren Proportionen übereinstimmt, dann ist das daraus Resultierende Werk die Lüge selbst. Gerade im Werken junger Komponisten musste ich dieses Dilemma meist erleben. Besonders 2004 in Darmstadt: Es reicht wenn wir gut funktionierende Mittel einsetzen, nicht einmal dann, wenn dies mit wirklich gutem Handwerk verbunden ist. Reines Handwerk ist Mittelmaß. Nur gut Funktionierendes ebenso. Dann überschneiden sich beide Wege und enden dort, wo sie anfingen: an der Oberfläche.
Man braucht - wenn man eine starke Persönlichkeit, Ehrgeiz und wahre Utopien hat - mindestens zwei Jahre dafür, das im Studium Erlernte, Angewöhnte “auszuziehen” . Danach noch zehn Jahre, bis man es geschafft hat, aus der Schublade der “Schüler von…..” raus zu kommen. Wenn das handwerklich gut gemacht ist, jedoch alle Kräfte und auch die Überzeugung selbst fehlen, bleibt nur ein Hauch der Genialität des vormaligen Lehrers. Junge Komponistenkollegen bedienen gerade diese Art von Arbeit: Scheinbar stimmt alles - nun, tut es das wirklich? Das sind Normen unserer Zeit: Anpassen, “political correctness”, nicht zu weit gehen, alles gut funktionierend und flach, langweilig hinschreiben. Das ist nur leider gerade das Gegenteil von dem, was interessant ist und Boden für Neues bietet! Es dauert eine Weile, bis man von der vom Lehrer geprägten “Halbidentität” loskommt. Das ist schwer, mühsam und führt ins Unbekannte. Alles, was man in der Hochschule lernt, müsste man idealerweise
wegwerfen, dann wieder herausholen aus dem Papierkorb - neu bewerten, überdenken, und wieder wegwerfen. Aber passiert das in vielen Fällen? Weiterdenken. In die Leere, in das Unbekannte, in das Vernebelte. Nichts wird auf einem Silbertablett serviert. Anpassung im Sinne einer musikalisch Erfolg heischenden und dafür alles Eigene auf den Müll werfenden Haltung ist nie langlebig.

Ich würde das Neue, das Grenzen überschreitende in zwei Kategorien aufspalten: in den handwerklichen kompositorischen Prozess und in das hörbare Ergebnis. Ist die Idee neu in Bezug auf das Handwerkliche? Dies ist nicht interessant für das Publikum: Hörbar gemacht werden konstruktive Ideen selten (Und konstruktives Hören an sich gibt es eigentlich nicht - vielleicht erst in 300 Jahren, wenn die Menschheit dann überhaupt noch in der heutigen Form existiert. Wenn wir keine Ohren mehr haben, dafür mit den Augen werden hören können). Mathematische Prozesse und algorithmische Ideen nimmt niemand hörend wahr. Diese Arbeitsweise, Neues zu finden, beschränkt sich auf den rein spekulativen und intellektualisierten Prozess, eigentlich ja KEIN Ziel der Musik . Heute komponierte rein konstruktivistische Werke sind Ausläufer einer längst vergessenen musikalischen Richtung: des Serialismus. Ein Vergleich: Bei einem Architekten z.B. interessiert es keinen Menschen, wie er die Konstruktion eines Hauses mit Hilfe mathematischer Formeln ausgerechnet und erschafft. Was aber interessiert, ist, wie dieses Haus wirkt und ob es überhaupt stehen bleiben wird. Die Voraussetzungen
dafür gehören zum Handwerk - sind sozusagen “Fachgeheimnis”, die das Hörergebnis nur im
Hintergrund minimal beeinflussen. Unter uns Komponisten gibt es ja auch viele “Mathematiker”, die dieses Handwerk überbewerten - sogar das ganze “Neue” darauf aufbauen wollen und mathematische Vorprozesse mit der Identität eines Musikwerkes fast auf die gleiche Stufe stelle - dies ist nur die Unsicherheit, was durch wissenschaftliches verdeckt wird. Die Unsicherheit gegenüber der eigenen seelischen und Emotionellen Welt. Um diese nicht anrühren zu müssen. Da sie Angst haben von der eigenen Gefühlswelten, werden Masken und “Kleider” für das Geschöpf gesucht, um es zu verdecken. Neues in Bezug auf das hörbare Ergebnis: hier ist natürlich auch Vorsicht geboten. Wenn ein Musikwerk nur aus Effekten besteht, die gut, angenehm und interessant klingen, wird zwar unter Umständen viel eher vom Publikum akzeptiert, doch ohne geistige Vorarbeit einer musikalischen Idee bleiben solche Musikstücke nach dem ersten Erklingen langweilig, zu pur, einfach. (Das passierte mit bei einigen Stücken von Ligeti: Nach dem zweiten Hören einiger Stücke hatte ich keine Lust mehr auf ein weiteres Mal. Die betreffende Werke wurden langweilig: Viele auf Hörpsychologie basierende musikalische Prozesse bedienten schon beim Geschehen die Erwartung. Es war nicht mehr interessant,
alles war zu berechnend.) Die Schlussfolgerung hieraus: Einseitigkeiten in beiden Kategorien befriedigen die Hörerwartung nicht. Es muss immer etwas Überraschendes passieren, man muss bei jedem Hören eines Werkes Neues entdecken können. Dies erreicht man nur mit einer Arbeitsweise, die beiden Kategorien verwirft, und diese dann mit ungewohnten Gedankengängen und Vorlieben umwertet. Des Weiteren kommt es auf die Schaffung von Energie und einer hohen Erlebnisrate für den Zuhörer an. Ein Stück soll für den Hörer wirken wie ein Blick auf eine Galaxie, ohne Grenzen, leuchtend, sich in sich bewegend, sich immer neu
belebend… Also, was nun? Alles in einem Topf werfen und durchkneten. Was rauskommt? Lassen wir uns überraschen. Man muss nicht alles vorher wissen - deswegen: keine bewusste Algorithmik - die braucht man wirklich, wenn man unsicher in seinem Ich ist) , kein Vorkonstruieren, nur das Allernötigste. Ich will, das das Material und die Idee mich beim Komponieren selbst auch schon überrascht! Keine Wirkungsjägerei und Effekthascherei - das ist einfach, primitiv und berechenbar. Energie! Kraft! Schreie! Un d nicht zuletzt Bewegen, Springen, Reintreten, Schleudern und Wirbeln, Gewohntes und gut Funktionierendes (weil es nur funktioniert und nicht weiter) ausrotten. Dies alles muss getan werden, um etwas Neues und Grenzüberschreitendes zu Schaffen. Bequemlichkeit tötet den Geist. In diesem Sinne keine “Musik” mehr komponieren. Davon gibt es ja genügend. Hörereignisse müssen her, die dazu geboren werden, die Seele und den Geist des Zuhörer zu bewegen. Das Schaffen eines Erlebnisses soll daher in jedem Punkt als Ziel gesetzt werden, Klänge “in die Köpfe” gehauen
werden, die wochenlang noch dort herumschwimmen, um Reaktionen auszulösen. Keine langweiligen, nichts sagenden Musikstücke, die dann im Anschluss an die Aufführung im Nachhinein verintellektualisiert werden, zu denen sogar vorher Romane im Programmtext geschrieben werden, was diese nichts sagende und langweilige Musik eigentlich ja sagen will. (Bitte schön, wenn ein Komponist es nicht schafft, diese Aussage durch seine Musik zu machen, sollte er lieber was anderes als Beruf suchen. Es geht ja doch um das Klangergebnis, nicht darum, wie man beschreiben kann, was man komponieren möchte bzw. komponiert hat. Wenn Texte solcher Art im Programmheft gefunden werden, brauchen wir eigentlich nichts Hörbares zu schreiben. Dies ist eines der grössten Probleme unserer Neuen Musik. Wenn ich zum Konzert gehe, möchte ich das HÖREN können, was der Komponist sagen möchte. Ein aussagefähiger Titel für ein Werk sollte daher als Verbale Bestandteil eines Musikstückes ausreichend sein).
Wahre Kunst, die etwas zu sagen hat, ist wie eine Naturkraft. Sie überschwemmt das, was sie sowieso nicht zurückhalten kann: ihre Kraft ist grenzenlos, immer neu, überraschend, bewegend. Das ist das, was heute den meisten Komponisten der jüngeren und jüngsten Generation fehlt. Um nochmals den Vergleich zur Architektur zu bemühen: Wenn wir “Häuser” bauen möchten mit Noten, möchte ich meine Häuser zwar aus Steinen und “gewöhnlichen” Baumaterial bauen, doch meine Häuser müssen mal auch auf dem spitzen Dach stehen können, dabei rotieren und das alles vielleicht auch noch in der Luft schwebend tun. Ohne jedoch, dass die Bewohner dabei erbrechen müssen. Oder doch? Das wäre wiederum grenzüberschreitend und interessant: was könnte ich aus dem Erbrochenen wieder Neues bauen? Vielleicht einer Puppe kneten, die singen und Klavier spielen kann?

Neues und Grenzüberschreitendes muss man nicht krampfhaft suchen. Es liegt vor unserer Nase. Es kommt auf die Auffassung der Idee vom Neuen an, auf die Aufarbeitung selbiger. Größtenteils hängt der Erfolg, eine neue Idee auditiv zu übermitteln, davon ab, wie tief in die eigene Psyche in die Idee eingetaucht, diese Idee angekratzt, angefasst und miterlebt wurde. Ob der Kern verstanden und von mehreren Seiten beleuchtet wurde. Und entsprechend ´natürlich mit Geschick übermittelt und von den besten Interpreten vorgetragen wurde. Wenn dies alles stimmt, hat man echte “neue” Kunstwerke erschaffen, die bewegen, viel zu sagen haben und weitere, in die Weite zeigende Wege vor unseren Augen geöffnet haben. Wege, die zwar jetzt schon da sind, jedoch die Alltäglichkeit von der bequemen Schar der menschlichen Wesen nicht bemerkt, angeschaut und angehört werden können.

Pèter Köszeghy, 2004/2005 in Berlin

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